Ein Jahr nach der schweren Explosion in Beirut berichten Expertinnen und Experten im Workshop “Built Heritage in Crisis” über ihre Erfahrungen vor Ort und die Herausforderungen mit denen sie in der Krisensituation konfrontiert waren. Das Deutsche Archäologische Institut und das Projekt KulturGutRetter luden zu dem Workshop ein.
Am 4. August 2020 erschütterte eine gewaltige Explosion die libanesische Hauptstadt Beirut. Tote, Verletzte und Zerstörungen in mehreren Stadtvierteln nahe dem Hafen waren die Folge. Etwa 300.000 Menschen waren von der Katastrophe betroffen und verloren ihre Wohnungen. Die ältesten Gebäude, die von der Detonation im Hafenviertel betroffen sind, stammen aus dem 19. Jahrhundert und sind mehr als nur Wohnraum. Die historischen Gebäude stellen einen wichtigen Teil der Identität der Einwohner dar.
Fachleute berichten im KulturGutRetter-Workshop „Built Heritage in Crisis“
Die Erste Direktorin der Orientabteilung des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI), Dr. Margarete van Ess und das Projekt KulturGutRetter luden im August 2021 Expertinnen und Experten ein, um von ihren Erfahrungen in Beirut zu berichten. Während des Workshops zum Thema “Built Heritage in Crisis | Contributions to the rescue, protection and recovery of built heritage in post-blast Beirut” stellten die spezialisierten Restaurierungsarchitekten Nathalie Chahine al Chabab (BBHR2020), Paula Abou Harb (BBHR2020), Marc Yared (BBHR2020) und Roland Haddad (BBHR2020) sowie Dipl.-Ing. Axel Seemann (Axel Seemann – Planung in der Denkmalpflege) und Dipl.-Ing. Henning Burwitz (DAI) die bisherigen Arbeiten vor und diskutierten die Erfahrungen. Dr. Margarete van Ess (DAI) und Dr. -Ing. Ulrike Siegel (DAI) moderierten den Workshop.
Kurz nach der Explosion in Beirut
Bereits kurz nach der Katstrophe organisierten sich selbstständig die BewohnerInnen der Stadt und begannen mit den Lebensrettungs- und Aufräumarbeiten. Es formierte sich ein Notfallteam, bestehend aus 40 Restauratoren und 200 Architekten und Studierenden. Unter dem Namen Beirut Built Heritage Rescue 2020 (BBHR2020) vernetzten sich die Fachleute mit der libanesischen Antikenverwaltung (Directorate General of Antiquities, DGA). Schnell boten auch NGO’s und Institutionen, wie das Deutsche Archäologische Institut, ihre Hilfe an.
Eine besondere Herausforderung für alle Beteiligten war die Koordination und Kommunikation zwischen den Fachleuten von BBHR2020, staatlichen Einrichtungen, den lokalen Helferinnen und Helfern sowie den ausländischen und inländischen NGO’s und Institutionen. Über eine bereits existierende Messenger-Gruppe, eine Online-Plattform und Social Media koordinierten sich die Fachleute bereits einen Tag nach der Explosion. In der zunächst schwer überschaubaren Krisensituation schafften es die Fachleute in zahllosen ehrenamtlichen Arbeitsstunden und orientiert an internationalen Standards, das zerstörte kulturelle Erbe der Stadt zu erfassen.
Erste Maßnahmen nach der Explosion in Beirut – Schadenserfassung
Gemeinsam machten sich die Helfenden daran, die Schäden zu kartieren und die Gebäude zu untersuchen. Zunächst mussten die Baudenkmäler aufgesucht und erfasst werden. Es folgte die Begehung des Katastrophengebiets, das in vier Zonen unterteilt wurde – je nach Zerstörungsgrad. Die Zonen wurden weiter unterteilt und ehrenamtlichen Architekten zugewiesen, die eine Priorisierung vornahmen. Die Gebäude wurden dann in vier Schadenskategorien unterteilt. Innerhalb von acht Tagen nach der Katastrophe waren bereits 99% der historischen Gebäude identifiziert und kartiert. Eigens entwickelte Formulare für die statische Dokumentation, Planung und methodische Richtlinien waren zu diesem Zeitpunkt bereits in Benutzung. Um die großen Mengen an Datenmaterial: Fotos, Videos, Formulare und Zeichnungen zu verwalten, wurden hierfür Richtlinien festgelegt.
Das Deutsche Archäologische Institut sendet Unterstützung
Da nur wenige Statiker mit Erfahrung im Bereich historischer Bauweisen vor Ort waren, sendete das Deutsche Archäologische Institut den Statiker Axel Seemann und den Bauforscher Henning Burwitz nach Beirut, um ihre libanesischen KollegInnen von DGA und BBHR2020 bei der Schadenserfassung zu unterstützen. Bereits vor der Katastrophe hatte die Orientabteilung des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI) Projekte zum Schutz und Erhalt von Kulturerbe im Libanon initiiert. Die Ingenieure berieten die libanesischen KollegInnen bei der Erstellung einer Dokumentationsstrategie, die es erleichterte festzulegen welche Maßnahmen während der Notsicherung der Baudenkmäler anzuwenden sind. Im Workshop berichtete Dipl.-Ing. Axel Seemann, mit welchen schnellen und einfachen Methoden erfolgreich erste Sicherungsmaßnahmen beschädigter Gebäude durchgeführt wurden. Voraussetzung dafür sei die Anwesenheit von Ingenieuren und Architekten, die über grundlegende Erfahrung im Umgang mit historischen Gebäuden verfügen. Besonders wichtig seien außerdem die Standardisierung von Notfallmaßnahmen und die Implementierung von Fortbildungsmaßnahmen.
Restaurierung der Baudenkmäler von Beirut
Bis zum Einbruch des Winters stützten die Helfenden Fenster und Türen ab, errichteten Gerüste und organisierten den dringend notwendigen Winterschutz der zerstörten Gebäude. Auch die Koordinierung von Baufirmen und verwaltungstechnischen Aufgaben, wie Anträge und rechtliche Vorgänge, waren ein wichtiger Teil der Arbeit. Im Zuge der Arbeiten wurden, unterstützt durch das DAI, UNESCO Libanon, ICOMOS Libanon und ICCROM, mehrere Leitfäden erstellt. Diese legten beispielsweise den Umgang mit geringen Schäden und Deckenmalereien fest. Die gesammelten Daten zu den Baudenkmälern wurden in einem GIS-System erfasst. Ein Mangel an spezialisierten Handwerkern, die beispielsweise in der Lage sind die kunstvollen Rundbogenfenster und traditionellen Dachkonstruktionen wieder herzustellen sowie das Fehlen finanzieller Mittel erschweren die Lage.
Erfolge und Perspektiven nach der Krise
Trotz aller Widrigkeiten gelang es den Helfenden 1600 Häuser zu erfassen und für 215 Häuser eine Dokumentation und 3D Modelle zu erstellen. Innerhalb eines Jahres konnten so fast alle historischen Gebäude gesichert werden. Die geringer beschädigten sind inzwischen größtenteils wieder bewohnbar gemacht und ca. 10% der schwer beschädigten Häuser sogar restauriert worden. Wie Dipl.-Ing. Nathalie Chahine al Chabab (BBHR2020) berichtete, wird eines der schwer beschädigten Häuser dafür genutzt, Weiterbildung für Handwerker in den Bereichen historisches Maurerhandwerk, historisches Schreinerhandwerk und Kunstschreinerei anzubieten. Es handelt sich um eine Kooperation zwischen der Initiative BBHR2020, dem Deutschen Archäologischen Institut und der libanesischen Antikenverwaltung (DGA). Die Architekten Paula Abou Harb und Marc Yared (BBHR2020) demonstrierten am Beispiel des Sursock Palastes und anderen Häusern eindrucksvoll die Fortschritte an den denkmalgeschützten Gebäuden.
Die Vorträge und Diskussionen innerhalb des Workshops machten die immense Leistung der Helfenden deutlich, die in den meisten Fällen ohne Honorar und unter schwierigsten Bedingungen hochprofessionell agierten und neue Standards für den Schutz und Erhalt von Baudenkmälern in der Krise setzen. Für den Projektkoordinator der KulturGutRetter, Christoph Rogalla von Bieberstein, der das Technische Hilfswerk (THW) nur einen Tag nach der Explosion nach Beirut begleitet hatte, stellen die Erfahrungen der Fachleute eine wichtige Grundlage für die Entwicklung des Projektes „KulturGutRetter – Ein Mechanismus für die schnelle Hilfe zum Schutz und Erhalt von Kulturerbe in Krisensituationen“ dar, das derzeit am Deutschen Archäologischen Institut gemeinsam mit dem Technischen Hilfswerk (THW) und Leibniz-Zentrum für Archäologie (LEIZA) entwickelt wird.
Titelbild: Nach der Explosion in Beirut sind Baudenkmäler stark gefährdet | Foto: Marc Yared.